Anklage gegen HNA-Redakteure

Wie am Dienstag bekannt wurde, findet am Donnerstag vor dem Amtsgericht Kassel ein Prozess gegen zwei HNA-Journalisten statt. Am 10. März 2013 hatten der heutige Leiter der Lokalredaktion Kassel-Stadt Frank Thonicke und die „Polizeireporterin“ Ulrike Pflüger-Scherb aus Akten zu einem Totschlag in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kassel zitiert.

Damals lautete eine Überschrift: Blick in die Ermittlungsakte: Laute Schreie in der Nacht. Die Artikel liegen lokalzeitungskritik.de vor, sind aber online nicht mehr verfügbar. In der damaligen Berichterstattung ist zu lesen: „Der im Gefängnis getötete Janusz W. könnte womöglich noch leben, wenn man alte Akten des mutmaßlichen Täters Michail I. gelesen hätte. Doch niemand schaute sich die Unterlagen an, aus denen hervorgeht, wie gefährlich der Mann ist.“ Dann wurde der Täter anhand seiner Gefängnisakten detailliert als psychisch Kranker charakterisiert und aus den Ermittlungsakten der Mordkommission das Versagen der JVA rekonstruiert.

Laut Anklage verstoße dies gegen den Punkt 3 des Paragrafen 353d des Strafgesetzbuches. Dort heißt es

§ 353d
Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer […] 3. die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.

An dieser Stelle möchte lokalzeitungskritik.de die HNA und die beteiligten Redakteure und Redakteurinnen zum wiederholten Male ausdrücklich für die hervorragende Berichterstattung über die Zustände in der Kasseler JVA loben. Mit ungebrochenem Elan, Ausdauer und schier unerschöpflicher Geduld berichtet die Kasseler Lokalzeitung seit Jahren über Missstände in der Justizvollzugsanstalt Wehlheiden. Immer wieder gilt beim Aufschlagen der HNA: Täglich grüßt der Sumpf – Neues aus der Anstalt. Rund 6 Monate nach dem oben genannten Totschlag, kurz vor der Berichterstattung mit den Akten-Zitaten, starb ein weiterer Häftling, weil auf einen Notruf nicht reagiert wurde.

Die lange Liste der HNA-Artikel über die Missstände in der JVA zeigt, wie notwendig die Berichterstattung ist:

  1. HNA.de vom 05.03.2011: Sex im Knast? Gefangener ließ sich mit inhaftierter Freundin einschließen
  2. HNA.de vom 15.03.2011: Techtelmechtel im Warteraum – JVA-Beamte müssen Abteilung wechseln
  3. HNA.de vom 10.05.2011: Grüne beantragen Sondersitzung zum Chaos in der JVA Wehlheiden
  4. HNA.de vom 16.05.2011: Chaos im Gefängnis: Jetzt gibt es Konsequenzen – Ministerium weist Vorwürfe zurück
  5. HNA.de vom 17.05.2011: Nach Artikel über Zustände im Knast: Justizbehörde will Maulwurf aus JVA finden
  6. HNA.de vom 19.05.2011: Kein Hessen-Fernsehen mehr im Knast: Absicht oder technischer Defekt?
  7. HNA.de vom 25.05.2011: Suche nach Maulwurf: JVA-Leitung überprüft E-Mails
  8. HNA.de vom 26.05.2011: JVA: Piraten für Schutz von Hinweisgebern
  9. HNA.de vom 15.06.2011: Anstaltsbeirat zu den Zuständen in JVA-Wehlheiden: „Es läuft nichts aus dem Ruder“
  10. HNA.de vom 14.12.2011: Heroin im Hohlraum
  11. HNA.de vom 21.02.1012: Wehlheider Gefängnis: Akten wurden zu Schmierzetteln
  12. HNA.de vom 04.04.2012: Prozess um Weitergabe von Gefängnis-Interna: Schickte JVA-Chef Spitzel ins Gericht?
  13. HNA.de vom 30.05.2012: Neue Vorwürfe zur JVA Wehlheiden: Stationen ohne Wachbeamte?
  14. HNA.de vom 30.05.2012: Umfrage unter JVA-Angestellten: Miese Noten für den Chef
  15. HNA.de vom 30.05.2012: Missstände im Gefängnis Wehlheiden: Minister soll aufklären
  16. HNA.de vom 06.06.2012: Interview: Justizminister Jörg-Uwe Hahn sieht keine Engpässe in JVA Wehlheiden
  17. HNA.de vom 06.06.2012: Justizminister weist Kritik an Missständen in JVA Wehlheiden zurück
  18. HNA.de vom 07.06.2012: Probleme in der JVA Wehlheiden: Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft
  19. HNA.de vom 12.06.2012: Neue Vorwürfe aus Kasseler JVA: Gefangene sich selbst überlassen
  20. HNA.de vom 26.07.2012: Gefangener schlug JVA-Beamten und brach ihm das Jochbein
  21. HNA.de vom 19.09.2012: Wehlheider Gefängnis: Mann wird tot in Zelle gefunden
  22. HNA.de vom 21.09.2012: Totschlag in JVA Wehlheiden: Haftbefehl erlassen
  23. HNA.de vom 27.09.2012: Totschlag in JVA Wehlheiden: Tatverdächtiger war psychisch auffällig
  24. HNA.de vom 04.12.2012: JVA Wehlheiden: Nachts nur zwei Pfleger im Knast
  25. HNA.de vom 14.01.2013: JVA-Pannen: Maulwurf bleibt unerkannt, Vorwürfe gegen Staatsanwaltschaft
  26. HNA.de vom 06.03.2013: Keine Reaktion auf Notruf: Häftling starb in Wehlheiden
  27. HNA.de vom 07.03.2013: Toter Häftling in JVA: Versehen folgte auf Versehen
  28. HNA.de vom 08.03.2013: Enthüllung: JVA-Toter war ein wichtiger Zeuge
  29. HNA.de vom 10.03.2013: Toter in der JVA: Häftling wurde Opfer eines Gewalttäters
  30. HNA.de vom 10.03.2013: Blick in die Ermittlungsakte: Laute Schreie in der Nacht
  31. HNA.de vom 11.03.2013: Gewaltverbrechen hinter Gittern: Verdächtiger hat laut Akte Psychose
  32. HNA.de vom 12.03.2013: Todesfall im Wehlheider Gefängnis: Justizminister schweigt
  33. HNA.de vom 13.03.2013: Tod in JVA: Anzeige wegen fahrlässiger Tötung
  34. HNA.de vom 15.03.2013: Gefangener tot in JVA gefunden
  35. HNA.de vom 17.06.2013: Täter gesteht Tötung in Kasseler Gefängnis
  36. HNA.de vom 20.06.2013: JVA-Wehlheiden-Prozess: Ältere Akten liegen im Keller
  37. HNA.de vom 20.06.2013: Tod in Zelle: Beamten tragen keine Mitschuld
  38. HNA.de vom 28.06.2013: Krasse Fehldiagnose im Gefängnis: Janusc W. wurde brutal getötet
  39. HNA.de vom 01.07.2013: Prozess um Tod von Janusc W.: Angeklagter war schuldunfähig
  40. HNA.de vom 09.07.2013: Anwälte haben „düsteres Bild“ der JVA Kassel
  41. HNA.de vom 11.07.2013: Tod in der JVA: Ukrainer kommt in Psychiatrie
  42. HNA.de vom 17.07.2013: Drogen in Kasseler Gefängnis entdeckt
  43. HNA.de vom 23.10.2013: Tod im Wehlheider Knast ohne Folgen
  44. HNA.de vom 21.01.2014: Aus Ermittlungsakten zitiert: Prozess gegen HNA-Redakteure

Der Prozess ist zumindest ein schlechtes Zeichen für die Pressefreiheit und die investigative Tätigkeit der nordhessisches Regionalzeitung. Frank Thonicke und Ulrike Pflüger-Scherb wünsche ich viel Erfolg für die Verhandlung am Donnerstag, den 23. Januar 2014 ab 9 Uhr im Raum D 112 des Amtsgerichts Kassel. Im Falle einer Verurteilung droht den Redakteuren eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Am 11. März 2013 schrieb Frank Thonicke in seinem Kommentar „Zum Tage“:

Wenn ein einziger Blick in alte Akten vielleicht Leben retten kann und man versäumt ihn, dann dürfen keine Entschuldigungen mehr gelten. Gefordert ist jetzt das Justizministerium in Wiesbaden. Der Skandal schreit nach Konsequenzen.

Die notwendigen Konsequenzen wurden augenscheinlich nicht gezogen. Diese sollen jetzt auf Journalisten abgewälzt werden, die nur die Wahrheit veröffentlichten.

Gefunden hier:
HNA.de vom 21. Januar 2013: Aus Ermittlungsakten zitiert: Prozess gegen HNA-Redakteure

9 Gedanken zu “Anklage gegen HNA-Redakteure

  1. „Die HNA-Redakteure Thonicke und Pflüger-Scherb hatten mehrfach über dieses Tötungsdelikt in der JVA berichtet und auch aus der Ermittlungsakte wörtlich zitiert“, heißt es wörtlich im HNA-Artikel selbst. Wenn das stimmt, haben die Kollegen möglicherweise wirklich einen handwerklichen Fehler gemacht. Denn sie hätten wissen müssen, dass eben jenes wörtliche Zitieren verboten ist. Dass eine Justiz, der solche hartnäckigen Recherchen natürlich unangenehm sind, das ausnützen könnte um „zurückzuschlagen“, kommt insofern nicht ganz unerwartet.

    Das ist äußerst ärgerlich, denn Thonicke und Pflüger-Scherb machen in diesem Fall offensichtlich einen sehr guten Job. Zu schade, dass sie der Justiz nun so eine Steilvorlage geben.

    Trotzdem, liebe Kollegen: Nicht einschüchtern lassen und weiter am Ball bleiben!

  2. Ich bin mit der HNA aufgewachsen und bekomme hin und wieder einen Einblick in diese Zeitung, wenn ich meine alte Heimat wieder mal besuche.
    Die HNA ist nun nicht unbedingt ein Medium, dem ich „Qualitätsjournalismus“ unterstellen würde. Zudem hat es einen Sinn, dass diese Dokumente nicht im Vorfeld veröffentlicht werden. Bei der meist sehr einseitigen Berichterstattung der HNA ist die Gefahr der Vorverurteilung auch mehr als gegeben.
    Daher fällt es mir schwer für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Sicher ist die Anklage vor dem Hitergrund zu sehen, dass sich da jemand auf den Fuß getreten fühlt, die HNA jedoch als investigatives Medium hinzustellen ist mehr als unangebracht.
    Die HNA berichtet besonders in ihren Lokalteilen sehr subjektiv und tendenziös. Um hier ein anderes Beispiel zu bringen, ist sicher die Berichterstattung über den Flughafen in Kassel/Calden ein hervoragendes Beispiel wie die Zeitung die Haltung und Wünsche einiger Partikularinteressen vertritt und dafür bereit ist die Realität zu ignorieren.

  3. „Dann wurde der Täter anhand seiner Gefängnisakten detailliert als psychisch Kranker charakterisiert und aus den Ermittlungsakten der Mordkommission das Versagen der JVA rekonstruiert.“

    Bei aller Berechtigung für Kritik gegen die JVA: Das geht zu weit. Auch Beschuldigte haben Rechte, die nach dieser Beschreibung eklatant verletzt wurden – noch dazu bei einem mutmaßlich psychisch Kranken. Schlimm genug, dass dies im Normalfall höchstens zu einer „Rüge“ des Presserats führt.

    Nach dieser Beschreibung hoffe ich, dass die verantwortlichen Redakteure verurteilt werden.

    Übrigens fehlt im obigen Zitat das kleine Wörtchen „mutmaßlich“ – durchaus bezeichnend. Rechtsstaat scheint nicht so Euer Ding zu sein.

    • Wo fehlt ein „mutmaßlich“? Der damals mutmaßliche Täter ist der Täter, da der mutmaßliche Täter inzwischen verurteilt und in der Psychiatrie ist http://www.hna.de/lokales/kassel/mord-jva-ukrainer-kommt-psychiatrie-3000709.html

      Die Rechte des Täters wurden nicht verletzt. Vor Gericht wurde öffentlich die psychische Krankheit thematisiert, übrigens genauso, wie in der nun angeklagten Berichterstattung. Wenn Sie die Ausführungen des psychiatrischen Gutachters vor Gericht grammatisch etwas anpassen, haben Sie das wörtliche Akten-Ziat der HNA:
      „Der 38-Jährige Ukrainer hört Stimmen, die ihm Befehle geben. Unter anderen würden sie sagen, er müsse Menschen töten, um deren Energie zu erlangen. Mit dieser Energie könne er dann gesund werden und besäße viel Macht. Diese Stimmen hätten ihm auch den Befehl gegeben, Janusc W. in der Wehlheider Gemeinschaftszelle zu töten.“

      Quelle: http://www.hna.de/lokales/kassel/prozess-janusc-angeklagter-tatzeit-schuldunfaehig-2983240.html

      Hier wurde kein Recht des Täters beschnitten. Die beiden Redakteure haben lediglich der Prozessberichterstattung um drei Monate vorgegriffen.

      • „Wo fehlt ein “mutmaßlich”? Der damals mutmaßliche Täter ist der Täter, da der mutmaßliche Täter inzwischen verurteilt und in der Psychiatrie ist“

        Denn ist es nur eine ungenaue Formulierung Ihrerseits.

        Zur Berichterstattung über psychisch Kranke steht im Bildblog öfter mal was – allerdings nicht, dass man ihre Persönlichkeitsrechte verletzen dürfte, indem man etwa aus vertraulichen Gefängnisakten zitiert.

        „Hier wurde kein Recht des Täters beschnitten. Die beiden Redakteure haben lediglich der Prozessberichterstattung um drei Monate vorgegriffen.“

        Sie haben soeben das Problem beschrieben, aber offenbar nicht verstanden.

  4. Pingback: Verfahren gegen HNA-Redakteure eingestellt | HNA Watchblog

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